Selbstverteidigung und Gewalt - ein exkurs
Wir müssen den Blick auf Selbstverteidigung grundlegend ändern. Viele Menschen denken bei Selbstverteidigung automatisch an Kampftechniken, Schläge und Tritte. Dabei beginnt Selbstverteidigung, lange bevor es zu einem körperlichen Konflikt kommt, im eigenen Kopf.
Du gehst nach Hause und auf einmal bekommst du einen Schlag auf den Hinterkopf. Während du benommen zu Boden gehst, nimmt Dir jemand Deine Tasche, tritt noch einmal in Dein Gesicht und läuft weg. Du kommst aus der Disco, jemand hält dir ein Messer zum Bauch und nimmt dir dein Geld. Du gehst auf eine Hausparty und wirst vergewaltigt. Harte Beispiele, die zum Glück nicht zu unserem Alltag gehören aber alle haben eines gemeinsam: Die Opfer werden überrascht und blicken machtlos ihrem Schicksal entgegen. Wir geben Einblick in die Gewalt und erklären, welche Mittel und Wege es gibt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Gewalt lässt sich laut Tim Larkin, Autor des Buches “When Violence is the answer” in zwei Arten unterteilen.
1. Die Realität der Gewalt verstehen
soziale Gewalt
Konflikte, die oft durch Worte, Deeskalation oder Flucht vermieden werden können (wie ein Barstreit oder Provokationen). Soziale Gewalt ist ein sich aufbauender Prozess, der sich durch klassische Elemente auszeichnet. Sticheleien, angekratztes Ego aber auch enge Räume oder Hitze können dazu führen, dass eine Situation eskaliert. Dazwischen gibt es unzählige Deeskalationsmöglichkeiten. Ein Zurückstecken, ein Zurückziehen, ein Getränk ausgeben ist möglich um Situationen schnell zu entschärfen. Soziale Gewalt ist ein jahrtausende altes Spiel um Behauptung und Messen.
asoziale Gewalt
Asoziale Gewalt ist komplett anders und brandgefährlich. Situationen, in denen der Angreifer keine Grenzen kennt (ein bewaffneter Angriff, ein Entführungsversuch, eine Vergewaltigung). Asoziale Gewalt ist brutal, aggressiv, unpersönlich und in höchstem Maße roh. Es gibt keine Möglichkeiten zur Deeskalation, weil es keine Eskalation gibt. Der Angreifer möchte Geld, Sex, seinen Geltungsdrang befriedigen oder einfach nur eine Machtposition ausüben. Bei Mord, Serienmord, schwerer Raub und Vergewaltigung gibt es kein Rausreden oder Deeskalieren. Der Angreifer hat sein Handeln meist schon viel früher festgelegt und oft ist man zur falschen Zeit am falschen Ort. Die asoziale Gewalt muss mit sofortigem Handeln - entweder Flucht oder brutalstes Kämpfen - erwidert werden.
2. Warum klassische Kampfsportarten nicht immer ausreichen
Viele Kampfsportarten konzentrieren sich auf sportliche Auseinandersetzungen mit Regeln. Doch in einem echten Notfall gibt es keine Fairness.
Regeln und Fairness existieren in asozialer Gewalt nicht.
Es geht nicht darum, „besser“ zu kämpfen, sondern den Gegner so schnell wie möglich kampfunfähig zu machen.
Schmerz allein ist kein zuverlässiges Mittel – man muss gezielt Schwachstellen des Angreifers angreifen (Augen, Genitalien, Kehle, Gelenke).
3. Der mentale Aspekt der Selbstverteidigung
Körperliche Techniken sind nutzlos, wenn man mental nicht bereit ist, sie anzuwenden. Hochwertige, effektive Selbstverteidigung erfordert:
Die mentale Bereitschaft zu handeln. Wer sich nicht traut, Gewalt anzuwenden, wenn es nötig ist, kann selbst zum Opfer werden. Wichtig: Ein Angreifer nutzt alle schmutzigen Tricks, um sein Ziel zu erreichen. Er kennt keine Waffenverbotszonen, greift aus dem Hinterhalt an, versteckt sich im Dunkeln und sucht nach leichten Opfern.
Die Fähigkeit, Angst zu kontrollieren. Adrenalin und Stress können lähmen, aber durch Training kann man lernen, klar zu handeln.
Die Entscheidungskraft. Eine schnelle, aggressive Reaktion kann den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
Rücksichtslosigkeit. Schon als Kind hören wir “Gewalt ist keine Lösung”. Ja nicht hinhauen. Wehren ja, aber vorher und nachher bitte miteinander reden. Das ist natürlich gut, da es Soft Skills wie Kommunikation und Kompromissfährigkeit ausbildet. Was auch hängen bleibt: Gewalt ist schlecht, weil schlechte Menschen Gewalt anwenden. Das ist falsch. Gewalt hat zunächst kein Mascherl. Ich kann bei einer Tür anreißen, weil sie klemmt. Ich kann mit dem Hammer auf einen Schrauben hauen, um ihn zu lockern. Gewalt ist ein Werkzeug, das allen zur Verfügung steht. Nirgends steht, dass nur böse Menschen Gewalt gebrauchen können. Angreifen haben es aufgrund des Denkmusters leichter, weil der Großteil der Bevölkerung durch Gewalt eingeschüchtert wird.
4. Effektive Selbstverteidigung
Gute Selbstverteidigung muss schnell, brutal und rücksichtslos erfolgen. Anstatt schockiert darüber zu sein, wie es nur soweit kommen konnte, sollte man wütend sein, dass es jemand wagt, so in den persönlichen Bereich einzudringen.
Situationsbewusstsein: Gefahren frühzeitig erkennen, um nicht überrascht zu werden (Kapitel 5).
Deeskalation, wenn möglich – aber klare Grenzen setzen.
Gezielte, entschlossene Aktionen: Keine Showkämpfe – wenn ein Angriff nötig ist, dann schnell, effektiv und brutal.
Das richtige Training: Sparring ist hilfreich, aber realistisches Szenario-Training ist entscheidend.
Sofort verwundbare Stellen angreifen. Egal wie muskulös, groß oder schwer jemand ist - Augen, Kehlkopf und Weichteile lassen sich nicht abhärten. Schmerzen zufügen reicht nicht, wir wollen das Gehirn so überladen, dass weitere Handlungen nicht möglich sind. Immer daran denken: Du beendest das, was jemand begonnen hat. Im Ernstfall gibt es keine zweite Chance.
5. die vier wichtigsten farben: cooper-farbskala
Die Cooper-Farbskala, entwickelt vom ehemaligen US-Marineoffizier Jeff Cooper, ist eines der wichtigsten Modelle, um Gefahren frühzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Ständiges Üben hilft, einen natürlichen Umgang mit der Farbskala zu bekommen. Sie teilt den Alltag in leicht lernbare Aufmerksamkeitsstufen ein.
Die vier Stufen der Cooper-Farbskala
Cooper unterteilt das Bewusstseins- und Gefahrenlevel in vier Farben, die verschiedene mentale Zustände beschreiben:
Weiß – Unvorbereitet und unaufmerksam
In diesem Zustand bist du entspannt, aber nicht aufmerksam. Diesen Zustand sollte es ausschließlich in den eigenen vier Wänden geben.
Negativbeispiel: Jemand läuft mit Kopfhörern und Blick aufs Handy durch eine dunkle Gasse.
Risiko: Perfektes Opfer für Angriffe, da keine Wahrnehmung für die Umgebung vorhanden ist.
Gelb – Entspannte Aufmerksamkeit
Du bist wachsam, aber nicht angespannt. Deine Wohnung bzw dein Eigenheim solltest Du nur im Zustand Gelb verlassen. Es spricht nichts dagegen, beim Verlassen der Wohnung in alle Richtungen zu schauen. Dabei muss es nicht immer um eine Gefahrenquelle gehen, Aufmerksamkeit bedeutet auch zu erkennen, ob jemand Hilfe benötigt. Wer öffentlich fährt, sollte so sitzen, dass er alle Fahrgäste im Blick hat. Wer auf Reisen geht, sollte unbedingt wissen, wo die Botschaft und das nächste Krankenhaus ist. Dabei geht es nicht um Paranoia, sondern darum, im Ernstfall vorbereitet zu sein. Ein Ernstfall kann auch bedeuten: Das Kind ist krank oder man hat den Reisepass verloren.
Beispiel: Du nimmst deine Umgebung bewusst wahr, registrierst Menschen und mögliche Gefahrenquellen.
Wichtig: Dieser Zustand sollte im Alltag angestrebt werden, um potenzielle Gefahren rechtzeitig zu erkennen.
Orange – Erhöhte Alarmbereitschaft
Eine mögliche Bedrohung wurde identifiziert. Was nicht zwangsläufig bedeutet, dass es gleich zu einer Auseinandersetzung kommt. Oft spricht man vom “Bauchgefühl”, was nichts anderes ist als eine Mischung aus Erfahrungen, Erzählungen und Vermutungen. Das Bauchgefühl ist wichtig und sollte nie überhört werden. Im Zweifelsfall handeln und falsch liegen als nicht zu handeln und richtig liegen. Im Zustand Orange suche ich nach anderen Routen oder Menschenansammlungen und habe bereits den Schlüssel oder den Kugelschreiber in der Hand.
Beispiel: Eine verdächtige Person nähert sich dir in einer einsamen Straße auf untypische Weise.
Handlung: Fluchtmöglichkeiten prüfen, Verteidigungsmaßnahmen gedanklich durchgehen, bereit sein, zu handeln.
Rot – Akute Gefahr & Handlung
Die Bedrohung ist real, eine Aktion ist notwendig. Ich bin mittendrin und es gibt nur einen Ausweg, entweder weglaufen oder kämpfen. Mein Angreifer hätte gehofft, mich eiskalt aus dem Hinterhalt zu erwischen aber da ich die Farbskala verinnerlicht und meine Umgebung geprüft habe, ist das Überraschungsmoment verpufft. Was für viele befremdlich klingt: Ab sofort zählt, wer am schnellsten oder am schnellsten brutaler ist.
Beispiel: Ein Angreifer zieht eine Waffe oder greift dich direkt an.
Reaktion: Entweder Flucht oder Selbstverteidigung, je nach Situation.
6. was kann ich tun um sicherer zu sein?
Aufmerksamkeit steigern. Wenn Du außerhalb deiner vier Wände unterwegs bist, nimm Deine Umgebung bewusster wahr, Stichwort “Zustand Gelb”. Kopfhörer im Ohr und Gesicht im Handyscreen blenden die Umgebung komplett aus und du merkst nicht, was vor und hinter dir passiert.
Verhalte Dich nicht wie ein Opfer: Aufrechte Haltung, konkrete Handlungen schaffen Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein schüchtert ein und hält viele, wenn nicht alle davon ab, weitere Schritte zu setzen.
Vermeide riskante Situationen. Die paar Euro Taxigeld nach dem Clubbesuch hat wohl jeder, ich muss nicht um 2 Uhr früh den Park nach Hause gehen. Dunkle Gassen in abgelegenen Gegenden oder ein Hauspartybesuch ohne jemanden zu kennen kann lässig sein, ist aber unnötig: Die Nacht deines Lebens wird dort sowieso nicht auf dich warten.
Kämpfe nicht, sondern beende den Angriff sofort. Bei der Selbstverteidigung geht es nicht darum, der bessere Kämpfer zu sein oder tolle Befreiungstechniken anwenden zu können. Bei Selbstverteidigung von asozialer Gewalt muss das Ausschalten des Gegners oberste Priorität haben. Wenn du Gewalt nicht vermeiden kannst, dann wende sie so effizient wie möglich an, um dich zu schützen.
Ziele sofort auf Schwachstellen. Schmerz allein ist keine zuverlässige Waffe. Greife Schwachstellen an, die den Gegner kampfunfähig machen. Mit anderen Worten: Ein Tritt gegen das Schienbein oder ein Schlag in den Bauch ist viel weniger zielführend als ein Fingerstich ins Auge, ein Ellbogenschlag gegen den Kehlkopf und/oder mehrere Schläge in die Genitalien.
Werde wütend. Die vielleicht wichtigste Regel, die es zu beherzigen gilt. Frage dich nicht unnötig, warum gerade dir so etwas Schreckliches passiert, es ist so wie es ist. Wenn Flucht nicht mehr möglich ist, gehe mit Wut und voller Wucht gegen den Angreifer vor. Gewalt ist ein emotionsloses Werkzeug, dass dein Gegner und du gleichermaßen benutzen könnt. Nur weil du Dich auf brutale Art wehrst, macht dich das nicht zu einem bösen Menschen, es macht dich zu einem lebendigen.